Ein nodulus zum Werk Johanna Flammers

Wenn wir im Traum ein Gebäude betreten, welches wir kennen, hat es andere Größenverhältnisse, eine andere Raumaufteilung, manchmal auch Kammern oder Gänge, die vorher unbekannt waren, oder aber eine kleine, alltäglich, logisch erfassbare, reale Veränderung: eine Lampe, eine Tür, ein Fenster, wo wir es erwarten, hunderte Male gesehen haben, und doch ist es einen halben Meter weiter links, und im Mondlicht tritt ein Mensch herein, den wir ebenfalls kennen, jedoch in einem anderen Lebensalter, und was sie sagt, ist uns beim Aufwachen entfallen. Ein Bild Johanna Flammers ist ein Capriccio, entwickelt über klare Schrittfolgen: In einer informellen, farbintensiven Malerei auf lebhafter Faktur erzeugt die Künstlerin Tiefe und Perspektiven durch grafisch angelegte Schatten und Formen, holt teils noch im Grundierprozess maskierte Bildstellen in die vorderste Ebene und verteilt als Asterisken Foto- und Textausschnitte. Der klösterlichen Strenge der Patriarchen des Informel setzt sie eine dreiste Verspieltheit entgegen, die sich nicht vor sexuell aufgeladener Formsprache oder ironischen Textstellen scheut – jedoch ohne die malerische Geste selbst in Zynismus zu überführen, sondern ihr eine neue Tiefe und Überraschung abzugewinnen. Auch die „Säulen der Schöpfung“ wirken nur in der Nachkoloration imposant, allerdings sind in Johanna Flammers Version einige Erdnüsse durch den Himmel gepurzelt. Der Verspieltheit unterliegt ein ernster Formwille; sie ist Ausdruck von künstlerischer Selbstermächtigung, und treibt so auch die skulpturalen Arbeiten an. Zu den Sätzen der Malerei, deren Intimität in Untiefen und Details steckt, stehen diese in einem Verhältnis wie einzeln geflüsterte Worte, von der gleichen Materialsensitivität geprägt, und ebenso subtil.

Oliver Kolibabka, Düsseldorf, April 2023


 

 

NODI

Hinter dem mysteriösen Wort "Nodi" verbirgt sich der lateinische Begriff für das deutsche Wort Knoten, also einer spezifische Struktur, die sowohl in der Natur in Erscheinung tritt, als auch in der menschlichen Kultur. Knoten finden sich in der Natur auf mikroskopischer Ebene, wie den Nervenzellen im Körper von Tieren und Menschen, aber auch für das menschliche Auge unmittelbar sichtbar in den Verschlingungen von Ranken und Wurzeln, mit denen Pflanzen unter und über der Erde in den sie umgebenden Raum ausgreifen.

In der menschlichen Kultur spielt der Knoten eine elementare Rolle in verschiedenen Handwerken und bildet vor allem bei Textilien unterschiedlicher Art die einfachste und zugleich effizienteste Form der Verbindung. Im Wort "Verknüpfung", einem Synonym für diese Technik, steckt der besagte Begriff, dessen gegenwärtige Aktualität in digitalen Hypertexten zu finden ist, die etwa im Internet die Verbindung respektive Verlinkung zwischen Dokumenten und Webseiten herstellen.

In der Bildserie der "Nodi" bezieht sich Johanna Flammer auf eine weitere Erscheinungsform des Knotens: Knoten im menschlichen Haar als Teil von Frisuren. Vermutlich seit Beginn der Kultur gehört bis zum heutigen Tag die Veränderung des eigenen körperlichen Erscheinungsbildes zu einer Konstante menschlichen Handelns. Insbesondere die Haare als von Kleidung zumeist unbedeckter Teil des Körpers sind sichtbarer Ausdruck dieser Umgestaltung des Selbst hin zu einem Selbstbild. Neben dem Verknoten und Flechten der Haare, gehören hierzu auch das Wellen und Glätten, das Kürzen und lang Wachsen lassen, bis hin zum Färben. Wo das noch wild wachsende Haar des von Zivilisation unberührten Menschen der wild wuchernden Natur entspricht, spiegelt das Frisieren die kulturbedingte Domestizierung der Tier- und Pflanzenwelt, die Domestizierung und Beherrschung des eigenen menschlichen Selbst. Nichtsdestotrotz können gerade auch frisierte Haare zum Sinnbild tief im Menschen verankerter Leidenschaften und Kräfte werden und werden als solche, nicht zuletzt in der Werbung, inszeniert.

So gehört insbesondere Printwerbung zu den wesentlichen Materialquellen von Johanna Flammer. Zusätzlich fotografiert sie auch Frisuren, die ebenso in die abstrakt wirkenden Farblandschaften eingebunden werden. Auf einzigartige Weise verschmilzt die Künstlerin in ihren malerischen Collagen die Elemente der Malerei und der Fotografie miteinander. Befreit von ihrer konkreten Funktion verwandeln sich die Frisuren, die miteinander und mit dem Bildgrund eine neue Einheit eingehen, zu wurzelartigen Geflechten, zu Rhizomen. Zugleich sprießen diese Ausschnitte wie Blätter aus der Basis der Farbfläche und erinnern damit an Knoten aus denen das Blattgrün an Ästen wächst.

Im Verlauf ihres Entstehens wechselt Johanna Flammer bei der Schöpfung ihrer Bilder zwischen bewussten, konzeptuellen Phasen mit intuitiven Abschnitten. Diese Mischung gewährleistet eine stilistische Einheitlichkeit, die im Einzelfall dennoch zu unerwarteten Ergebnissen führt. Diese Mischug aus Zufall und Planung ist seit der Kunst der Klassischen Moderne vor allem durch den Surrealismus besetzt, der inspiriert durch die Tiefenpsychologie Sigmund Freuds, die Weiten des seelischen Kosmos künstlerisch auszuloten suchte. Doch ist die Technik der Verbindung von Planung und Intuition weitaus älter und lässt sich in der Kunstliteratur bis zu Leonardo da Vinci zurückverfolgen, der in seinen Texten von der Inspiration zufälliger visueller Erscheinungen spricht. Und neben Freud muss auch die anthropologisch-psychologische Erforschung menschlicher Bildwelten durch Carl Gustav Jung für Johanna Flammer mit ins Feld geführt werden, wie ihr Interesse an archetypischen Formationen zeigt.

Visuell erinnern die Bildkonstellationen nicht selten an Gemälde des Informel und Tachismus der späten 1940er und 1950er Jahre, die spezifische Innovationen surrealistischer Malerei und Bildkunst fortführten. Einzelwerke von Wols, Max Ernst, Bernard Schultze oder André Masson lassen sich assoziieren. Aber Johanna Flammer beherrscht auch den Einsatz dramatischer Lichteffekte, wie sie in der Malerei des frühen Barock zum Einsatz kommen. Es entstehen halb organische, halb anorganische Landschaften der Seele, die zwischen Malerei und Collage ebensowenig trennen, wie zwischen Realität und Traum, Intuition und Verstand.

Thomas W. Kuhn, Tiergarten 2013


 

Kopfgeburten, rhizomartig wuchernd

von Jeannot Simmen

Johanna Flammer ist malende Zeichnerin und collagierende Malerin, lebt in Düsseldorf und schafft phantasmagorische Werke von neuer Qualität. Acryl- und Ölmalerei verbinden sich mit Collagen und Strichen zum vielfältig Ganzen. Jenseits von Natur oder Perspektive entstehen Kompositionen, die Nähe und Ferne zauberhaft verschmelzen.

Verdichten und Entgleiten Sich in der Arbeit verlieren, das Privileg der Künstlerin: Keine Vorgaben werden bei Johanna Flammer ausgedacht, kein Kompositions-Plan aufgestellt, kein Ziel intendiert. Die Künstlerin ängstigt nicht ein horror vacui beim Anfangen eines Bildes, keine Furcht herrscht vis-à-vis der leeren Leinwand.

Johanna Flammer beginnt mit einer grundierten Leinwand, malt und collagiert, schafft mutierende Gebilde. Offener Arbeitsprozess: Verästeln der Formen und Verdichten zu Knoten. Kontrolliert, aber auch mit Kontrollverlust wird gearbeitet, vermieden ein vorgegebenes Finden von Formen.

An den Enden der Formen entsteht Neues und Anderes: Gebilde, die auf den ersten Blick surrealistisch oder informel anmuten. Doch anders bei Johanna Flammer: die Strukturen sind vergleichbar dem Denken von Deleuze/Guattari. Um 1977 intendierten die Wissenschaftler ein neues, assoziatives Wissenschaftssystem. Die beiden Franzosen entwickelten ein poststrukturalistisches Wissens-System jenseits unterordnender Systematik und fern einer Klassifikation, verglichen dies mit Rhizomen, Wurzel-Geflechten.

Nodi als unbewusste Kopfgeburten Die Künstlerin weiss bei jedem Werk nicht, wohin das Bild sich entwickelt. Offen für Überraschungen aller Art, aber anders als bei den Surrealisten (Max Ernst, Joan Miró) wird hier nicht mit dem Unbewussten gearbeitet. Nicht der unerwartete Einbruch der Aussen-Realität wie bei den Dadaisten (Hannah Höch, Kurt Schwitters) bestimmt das Collagieren. Als passionierte Zeichnerin verwandelt die Künstlerin die Collage, die se ist im fertigen Bild nicht mehr wahrnehmbar..

Diese Gebilde massieren sich zu Nodis (Knoten) oder wuchern wie ein Wurzelgeflecht. Bei Johanna Flammer verbinden sich die in der Natur oberirdisch liegenden Knoten mit den unterirdischen Rhizomen; keine Natur-Abbildungen, eher farbige Wunsch- oder Kunst-Projektionen.

Nonperspektivische Welten. Zoom   Vor gut 500 Jahren wurde in Florenz, in der Früh-Renaissance, das perspektivische Weltbild entdeckt. Bild-Darstellungen wurden in menschlicher Anschauung objektiviert, verbleiben nicht mehr ein göttliches Eingebettetsein. Bildfiguren werden natürlich, perspektivisch in der Grösse und Landschafts-Darstellungen in einen realistischen Bezug gesetzt. Der Mensch bestimmte nach seinem Gesichtssinn und nach seinen Erfahrungswerten, transformiert den erfahrbaren Kosmos zur eigenen Welt. Tempi passati, Abstraktion und Gegenstandslosigkeit erweiterten um 1915 das Weltbild in einer zunehmend physikalisch interpretierten Welt. Vor zwei Jahrzehnten veränderte die Immaterialität und seit einigen Jahren das Öffnen zu virtuellen Welten unsere visuelle Erfahrung. Wir erfahren virtuell vor dem Bildschirm, was vordem träumerisch, nächtlichen Erscheinungen vorbehalten war.

Zoom: das Zoomen wird heute zum phantastischen Medium, möglich durch Computer-Bildprogramme. Wir erkennen neue Welten beim Heranzoomen, Gross und Klein erscheinen spielerisch. In den Photo-Programmen sind die Erfahrungen von Fernrohr und Mikroskop integriert. Das perspektivisch-haptische Realbild wird zur Teil-Wahrheit umfassender Ansichten in der virtuellen Unendlichkeit. Johanna Flammer erweitert dies, verschmelzt in ihren ‘realen’ Bildern Nah und Fern, Gross und Klein zu rhizomatisch-wilden Gebilden.

Amalgam: Acryl und Ölmalerei, Collage und Edding – Wie Bilder werden, verbleibt das grosse Reservoir der Künstler-Phantasien und kein noch so kluger Gehirnforscher kann diese unendlichen Möglichkeiten messbar machen oder in Gehirnlappen verorten, selbst Google mit seinen kombinatorisch-gefährlichen Algorithmen kann nicht (noch nicht?) mithalten.

Beschreibbar ist das künstlerische Vorgehen: Zuerst wird auf der Leinwand mit Acryl ein Hintergrund geschaffen, ein farbiger Grund, der heller oder dunkler, bis schwarz sein kann. Darauf werden mit Ölfarbe lianenartige, freie Form gesetzt. Diese werden durch Photographien von Haaren erweitert, die als Collagen auf die Leinwand gelegt, hin und her geschoben werden. Diese Abbildungen liefert der Friseur, teils klein-, teils grossformatig. Im Atelier sind diese Photographien nach Farben und Grössen sortiert. Diese werden dann auf der Leinwand fixiert. Öl-Malerei und Photo-Collage werden mit dem Edding-Stift bearbeitet, es entstehen übergangslose Einheiten. Durch zeichnerische Feinarbeit erscheinen die beiden unterschiedlichen Techniken wie aus einem Guss, sind amalgamiert. So wie der Körper durch die Aklimatisation sich anpasst, verwandelt die Künstlerin die collagierte Photographien der Haare zu etwas ganz Anderem. Johanna Flammers Liebe für das Zeichnerische und ihre Begeisterung für Strich-Schwärme verwandeln die subtilen Einzelformen. Eine Firnis- oder Lackschicht wird am Schluss gesetzt.

Nachsatz: Haare komponiert zu Frisuren sind Metapher für Einzelnes, das in der Vielzahl eine Qualität bildet. So wie jeder Strich Teil einer Komposition, so bilden viele Haare eine Frisur. Kein Zufall, dass Haare zur Ehrbezeugung (beim Barte des Propheten), die Figaros für ihre Friseurkunst bewundert und zu Liebes-Objekten nicht nur in der Oper wurden.

Jeannot Simmen